Luzifers Hofgesind
welche zugleich die Auflösung des stammes-
gebundenen Menschen ist, bereitet sich dadurch vor, daß die strengen Sippen-
ordnungen sich lockern, welche in der Vorzeit die Verbundenheit des einzelnen
mit den Götter-, Helden- und Ahnenmächten darstellen. Aus kosmischen und
bluthaften Bindungen befreit sich der einzelne Mensch. Die Blutesdämmerung ist
zugleich Götterdämmerung. Das Blut verliert seine geistige Bedeutung, es ver-
trocknet, die Ahnen schweigen. Der Kampf aller gegen alle beginnt. An Stelle der
Götterweisheit der Mythen tritt der mechanische Intellekt, an Stelle der kulti-
schen Sinngebung das ichsüchtige Wirken in der Dingwelt. Die individuelle
Freiheit ist mit Tod und Untergang erkauft. Diese menschlichen Ereignisse spie-
geln sich im Kosmos als Unterliegen der lichten Götter gegenüber dunklen Mäch-
ten. In ergreifender Weise schildert dies die Edda: Weltangst bricht herein, die
Götter selbst fühlen sich durch den Tod Baldrs bedroht, weil dieser, wie keine
andere Gestalt, Ausdruck lichter Durchgeistigung der Natur ist. Im Endkampf
seiner Volksgötter, in der Götterdämmerung, erlebt das mythische Volkstum der
Vorzeit selbst seinen Untergang: Thor streitet mit der Midgardschlange – zwar
besiegt er sie, aber die neun Schritte weiter wird er von ihrem Gift getötet. Odhin
wird vom Wolf verschlungen, dessen Rachen klafft wie der Abstand von Himmel
und Erde. – Man erinnert sich hier, daß Roms Genius eine Wölfin ist.
Alsbald aber ereignet sich der Umschwung: Odhins Sohn, der schweigsame Wi-
dar, tötet den Wolf, indem er seinen Rachen zerreißt. Baldr kehrt wieder und er-
schließt den auferstandenen Menschen erneut die Göttergeheimnisse von Erde
und Kosmos: ›Einen Saal seh ich, heller als die Sonne, mit Gold bedeckt, auf Gi-
mils Höhen. Da werden werte Fürsten wohnen und ohne Ende der Ehren genie-
ßen. Da reitet der Mächtige zum Rate der Götter, der Starke von Oben, der alles
steuert. Den Streit entscheidet er, schlichtet Zwiste und ordnet ewige Satzungen
an.‹ So singt die Edda.
Wer ist jener ›Starke von Oben‹, jener Überwinder der Mächte des Todes und des
Hasses? Wer ist es, der den vereinsamten Menschen nach der Götterdämmerung
zur Gemeinschaft erweckt, seine Ichsucht zum selbstlosen Dienst verpflichtet, die
Freiheit nicht vernichtet, sondern heiligt?«
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